Leseprobe
Vorwort der Herausgeber Thomas Kunze, Wolfgang Maier Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts geht zu Ende. Jede Generation neigt dazu, die Veränderungen, die sie erlebt, als besonders gravierend zu empfinden. Doch man muss tief in die Geschichte eindringen, möglicherweise sogar bis in die ersten Jahrhunderte des ersten Jahrtausends, in denen ein Weltreich verschwand, um Parallelen zu dem zu finden, was womöglich der ›Generation Einundzwanzig‹ bevorsteht. Seit den 1980er Jahren vollziehen sich weltweit Prozesse, die in ihrer politischen, ökonomischen und ethischen Dimension sowie in der Tiefe des Wandels mit den großen Zäsuren der Weltgeschichte vergleichbar sind. Die welthistorischen Brüche des begonnenen 21. Jahrhunderts werden von tektonischen Verwerfungen, sozialen Beben, Kriegen und Krisen begleitet, die so scheint es mit bekannten Wahrnehmungsmustern kaum zu verstehen und durch vorhandene Institutionen schwer zu organisieren sind. Schrittweise bildet sich eine neue Weltordnung heraus. Die drohenden Brechungen des Fortschrittes sind dabei vielfältig. Langsam zeichnet sich ab, welches die großen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Herausforderungen dieses Jahrhunderts sein werden. Der Aufstieg neuer Weltmächte, die menschenbedingte Klimaerwärmung oder die Alterung der Gesellschaften in den Industrienationen. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist seit Mitte der 1990er Jahre revolutioniert worden. Das Religiöse spielt durch das Aufkommen des islamistischen Terrorismus international eine Rolle, die zwei Generationen zuvor niemand erwartet hat. Die wissenschaftlich-technischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen verlaufen gegenwärtig in einem Zeitraffertempo und parallel zueinander. Durchbrüche in der Computer- und Telekommunikationstechnik lassen sich mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts vergleichen. Fortschritte der Gen- und Biotechnologie machen berechtigte Hoffnungen darauf, dass sich die Menschheit von der Geisel vieler Krankheiten befreien kann, aber sie stellen die Wissenschaft und Politik vor bislang unbekannte ethische Herausforderungen. Es gab Revolutionen, die ein Weltsystem zusammenbrechen ließen. Geopolitische Pole verschieben sich. Terrorismus breitet sich wie ein Krake aus. Proliferation droht, Massenvernichtungswaffen in die Hände islamischer und anderer Diktaturen fallen zu lassen. Nicht auszuschließen ist, dass solche Waffen in gescheiterten Staaten oder bei nichtstaatlichen Akteuren auftauchen. Der fundamentalistische Islam entwickelt sich zur dritten totalitären Bedrohung. Erleben wir bereits einen ›Kampf der Kulturen‹? Andersartige, kaum weniger besorgniserregende Gefahren gehen von enthemmten Finanzmärkten aus, die nicht nur die bestehenden Wirtschaftsordnungen gefährden, sondern den Wohlstand von Nationen und damit auch den sozialen Frieden. Diese Entwicklungen sind eingebettet und gleichsam Bestandteil des Globalisierungsprozesses. Globalisierung erscheint alternativlos. Ihre Gestaltung zum Nutzen der demographisch immer weiter schrumpfenden Nationen des so genannten Westens, zu dem nach dem Fall des Eisernen Vorhanges auch die Völker Mittel- und Osteuropas hinzu gekommen sind, wird davon abhängen, ob es der zivilisierten Welt gelingt, ihre Demokratien, ihren Wohlstand und ihre freiheitlichen Ordnungen wehrhaft gegen Intoleranz zu verteidigen. ›Politisch korrekt‹ sollte dabei all das sein, was dieser Aufgabe dient. Dabei macht die Geschwindigkeit, mit der neue Themen kommen und gehen, eine solche Politik als Staatskunst immer schwerer. Die Politik des Heute kämpft gut beschäftigt und scheinbar mit vollem Recht um das Heute, um die Schlagzeile von morgen und um die Themen der kommenden Woche. Die großen politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, verschwimmen, und Leitbilder verschwinden dabei in dem Maße, wie der Wunsch nach ihnen immer stärker wird. Wird es sie wieder geben? Als Herausgeber haben wir der Konrad-Adenauer-Stiftung nahestehende Historiker, Publizisten, Philosophen und Zukunftsforscher eingeladen, über den Werdegang des 21. Jahrhunderts nachzudenken. Einige von ihnen kommen aus Weltgegenden, die sonst nicht im Fokus der deutschen und europäischen Publizistik stehen. Die in diesem Band vereinten Aufsätze und Essays beschreiben Zukunftsszenarien, auch wenn auf diesem Gebiet nur eines mit relativer Sicherheit vorausgesagt werden kann: die Bevölkerungsentwicklung. Demographie steht auf einem festen Grund. Die Weltbevölkerungszahlen, so Sergej Kapitza (Russland) weisen heute einen Umbruch auf, wie es ihn seit der Jungsteinzeit nicht mehr gegeben habe. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden doppelt so viele Menschen leben wie im Jahr 2000. Michael Lind (USA) sagt den Vereinigten Staaten eine weitere Blütezeit voraus. Durch Einwanderung werde es in 100 Jahren eine Milliarde US-Bürger geben. Christian Saehrendt (Deutschland) dagegen rechnet vor, dass Deutsche schon heute gar nichts mehr dagegen tun können, innerhalb der nächsten zwei Generationen, also um die Jahrhundertmitte, Minderheit im eigenen Land zu werden. Friedbert Pflüger stellt zur Diskussion, ob wir es uns angesichts damit verbundener schwer zu lösender Integrationsfragen wirklich leisten wollen, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, von der aus es dann weitere Millionen Einwohner in die Mitte Europas ziehen dürfte. Wie werden unsere politischen Institutionen die demographischen Entwicklungen verkraften? Werden immer mehr Staaten nach westlichen, demokratischen Vorstellungen regiert werden oder wird eher das Gegenteil der Fall sein? Carlo Masala (Deutschland) sieht den Westen insgesamt durch Hybris gefährdet: Gerade würden wir erleben, dass autoritäres Regierungshandeln sich neben westlicher Demokratie als zweites Erfolgsmodell etabliere. Uns bliebe gar nichts anderes übrig, als zu lernen, Staaten zu akzeptieren, die nicht unsere Werte teilen. Denn eine Politik, die das Eigene anderen aufzuzwingen versuche, würde die Welt über kurz oder lang in einen sehr unsicheren Ort verwandeln. Brahma Chellanay (Indien) weist darauf hin, wie grotesk sich heute, angesichts eines zur Übergröße gewachsenen Asiens, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Strukturen internationaler Institutionen ausnähmen. Die Vereinten Nationen müssten sich schnell ändern oder sie würden untergehen. Fjodor Lukjanow (Russland) ist skeptisch angesichts des unverrückbar scheinenden Selbstbildes der Vereinigten Staaten, die sich die Welt nur unter ihrer Führung vorstellen könnten. Die sich abzeichnende Multipolarität mache eine über allen schwebende Führungsmacht zur Illusion. Xuewu Gu (China) prophezeit einen künftigen Wettbewerb der Werte. Das konfuzianisch geprägte, ganz die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellende Menschenbild sei mit der vom Westen postulierten Autonomie des Individuums kaum in Einklang zu bringen. Der Chinese weist auf eine unter den Informationsgewittern des Internets rapide hervorbrechende Schwäche westlicher Demokratie hin: Im Sekundentakt würde das World-Wide-Net Plebiszite produzieren. Damit aber verlören die demokratischen Institutionen eine Grundvoraussetzung ihres Funktionierens: Zeit zum Abwägen. Lautstärke und Geschwindigkeit der Forderungen nähmen den Verantwortlichen den Atem und genau jenes Minimum an Ruhe, das nun einmal nötig sei, um eine Entscheidung so zu treffen, dass sie auch etwas tauge. Xuewu warnt vor einem Zeitalter der Demagogen. In diese Richtung weist auch ein Beitrag von Bruce S. Thornton (USA), der uns noch einmal zu den Quellen führt, in die Stadtdemokratien des alten Griechenland. Die Gefahr, den eigenen Untergang selbst zu bewirken, sei der Demokratie angeboren. Einem Diktator, so schon Thukydides, fehlten vielleicht die Ideen der Vielen, das Abwägen im Meinungsstreit. Dafür aber könne er schnell handeln. In Krisen oft das einzig Erfolgreiche. Was kann Europa dem entgegensetzen? Paul Thibaud (Frankreich) plädiert mit Feuer und fast schon verzweifelt für einen Neuanfang in der Europäischen Union. Verstohlen seien ihre Institutionen in einem halben Jahrhundert geschaffen worden, eine nach der anderen. Nur so, klammheimlich, hätten die Väter der Gemeinschaft geglaubt, würde sich der nationale Egoismus unter der bequemen Gewohnheit wegfallender Zollschranken und Grenzkontrollen, quasi ersticken lassen. Für Michael Lind werden die Menschen auch künftig in Nationalstaaten leben wollen, von denen es in 50 Jahren mehr geben dürfte als heute. Für Europa prophezeit er ein souveränes Schottland und ein geteiltes Belgien. Ludger Kühnhardt (Deutschland) mahnt, jahrzehntelange Versäumnisse aufzuarbeiten. Europa soll Verantwortung übernehmen gegenüber einer Welt, die sich längst wie selbstverständlich unserer Standards bedient, solange diese nur Technisches betreffen. Fjodor Lukjanow (Russland) befürchtet, dass Europa weiter seine Illusion pflegt, die wirklich harten Fragen an uns würden schon irgendwie am südlichen Rand des Mittelmeeres halt machen und existenzielle Probleme nicht in die gepflegten Vorgärten des europäischen Paradieses trampeln. Was geht es uns zum Beispiel an, welche Wasserkraftwerke in Mittelasien gebaut werden? Wer den gedankenvollen Aufsatz von Akmal H. Saidow (Usbekistan) lesen wird und anschließend Bertrand Malmendiers (Deutschland/Frankreich) sarkastischen Bericht über miteinander wetteifernde Pipeline-Projekte, die das Gas aus den Staaten östlich des Kaspischen Meeres zu uns befördern sollen, lernt viel darüber, wie eng die Welt geworden ist und wie gefährlich viele Konflikte auch für Europa werden können. Der israelische Autor Uriya Shavit erinnert daran, dass es zum Lebensrecht Israels keine gemäßigte islamistische Haltung gibt. »Moderatestes Angebot: Israel wird so lange geduldet, bis die Muslime stark genug sind, es zu zerstören.« Und er warnt ebenso wie Guido Steinberg (Deutschland) vor der atomaren Bewaffnung des Iran, die zur Aufrüstung der Gesamtregion führen würde. Nirgendwo sonst lägen Nuklearwaffen und Terrorismus räumlich so nahe beieinander. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!« (Hölderlin). Friedbert Pflüger (Deutschland/Großbritannien) gibt sich überzeugt: »Je größer die Bedrohung, desto mehr werden die schlummernden Kräfte der westlichen Zivilisation wachsen.« Als Herausgeber teilen wir nicht alle Einschätzungen der Autoren dieses Sammelbandes, dieser Hoffnung jedoch stimmen wir zu: im Interesse der ›Generation Einundzwanzig‹! Wir hoffen, dass dieses Buch auf geneigtes Leserinteresse stößt und der Zukunftsforschung Denkanstöße gibt. Thomas Kunze, Wolfgang Maier Nachwort des Verlegers Von meinem Schreibtisch aus kann ich die Stimme der Freiheit hören; über die Dächer Berlins sehe ich auf den Schöneberger Rathausturm mit der Freiheitsglocke. Diese größte profane Glocke der Stadt verkündet seit 60 Jahren ihre Botschaft mit den Worten Abraham Lincolns »Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben.« Für Deutschland hat sich ihr Ruf 1989 erfüllt. Auch im durch Kriege und Diktaturen erschütterten Europa haben sich die Freiheit und das Recht auf Gerechtigkeit zum Ende des 20. Jahrhunderts immer weiter verbreitet und manifestiert. So dürfen wir hoffen, diesen inzwischen kräftigen Spross weltweit gedeihen zu sehen. Dies ist eine der großen Chancen des 21. Jahrhunderts, um einem Teil der Gefahren, die der vorliegende Band für unsere Zukunft zeigt, zu begegnen. Als Verleger betrete ich mit diesem der Zukunft zugewandten Buch Neuland. Auf die eine oder andere Weise beschäftigen sich neue Veröffentlichungen fast immer mit Vergangenem. Auch Sachbücher arbeiten meist auf, was bereits geschehen ist, analysieren und erläutern, wenden Umstände und Hintergründe hin und her und entnehmen der Vergangenheit gern Begründungen. Thema des vorliegenden Bandes dagegen ist die Zukunft: Was werden uns die nächsten Jahrzehnte bringen? Wird es gelingen, bei den gewünschten Konkordanzen von Politik und Wirtschaft die ökologischen Belange international vernünftig quasi freundschaftlich zwischen den Staaten zu berücksichtigen? Kann Europa seine Chance als genuiner Hort der Aufklärung nutzen, um einen Freiheit und Vernunft bedrohenden fundamentalistischen Kulturkampf zu verhindern? Werden von Fundamentalisten dominierte Staaten »eine Wiedergeburt der Freiheit erleben«? Das Buch weist mögliche Wege, denen die Menschen des 21. Jahrhunderts folgen können. Mancher Seitenpfad wird sich als Abkürzung auf eine wichtige Hauptstraße erweisen und die eine oder andere Nebenstraße wird als Sackgasse enden. Wie also wird die Erde am Ende des 21. Jahrhunderts aussehen? Welche Antworten finden wir auf die drei großen Fragen Weltklimawandel, Ressourcenverbrauch und friedliches Miteinander der Kulturen? Texte mit einer solchen Fragestellung begeben sich auf die Suche; sie müssen Möglichkeiten, Freiheitsgrade und Gabelungen beachten und wenigstens andeutungsweise versuchen, nahezu Unvorhersehbares mit ins Kalkül zu ziehen. Ein sehr eindrucksvolles Ergebnis des vorliegenden Bandes ist die geografisch-politische Vielstimmigkeit: Wir in Europa werden uns künftig auch mit anderen als eurozentristischen Sichtweisen und Motivationen auseinandersetzen müssen, vor allem mit denen Asiens und Lateinamerikas. Für einen Verleger, der sich ständigen Untergangsprophezeiungen für sein Medium Buch gegenübersieht, keine schlechte Perspektive: Die umfassende globale Vernetzung, mit der das 21. Jahrhundert begonnen hat, ist ein ähnlicher Meilenstein in der Menschheitsgeschichte wie die Erfindung des Buchdrucks. Gutenbergs bewegliche Lettern haben Licht in die Köpfe der Menschen des Mittelalters gebracht und die Betrachtung und das Verstehen der Welt verändert. Ähnlich dringt die globale Multimedialität heute zensurunfreundlich in die dunklen Winkel von Unfreiheit und Staatsdiktat. Man darf gespannt sein, mit welcher Geschwindigkeit und Konsequenz sich die internationale Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts weiterentwickeln wird und wie wichtig ihr Bücher dabei bleiben werden. Presse und Internet können nicht alleinige Plattformen der Auseinandersetzung sein, und so sehe ich in zukunftsorientierten Themenbänden wie diesem eine gute Perspektive für Bücher. Die Zukunft zu deuten, ist ein Uranliegen des Menschen und hat Schreibende stets gereizt. Oft haben sie dabei, um ihren Prognosen Gewicht zu verleihen, dort in der Vergangenheit angesetzt, wo ihrer Meinung nach etwas falsch verlaufen war. Auch manche Autoren dieses Bandes analysieren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mit historisch sensibel geschultem Wahrnehmungsvermögen, um abzuleiten, was geschehen wird, und um zu zeigen, welche Alternativen des Handelns wir besitzen. Gerade die politischen und sozialen Konstellationen, die der Mensch mit freiem Geist und der Dynamik konkreter Ideen entscheiden kann, sind für unser künftiges friedlich-gedeihliches Zusammenleben auf der Erde entscheidend. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat durch ihre großzügige Unterstützung der Arbeit aller Beteiligter dieses Buch ermöglicht; ihr gilt ganz besonderer Dank. Berlin, im Oktober 2010 |
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